Gewaltige Katastrophen der Menschheitsgeschichte werden von den nachfolgenden Generationen im Laufe von vielen Jahrhunderten verarbeitet. Forscher erkunden konsequent, wie sich etwas ereignen konnte, was Millionen von Menschenleben abrupt beendet hat. Jedoch ist weder die akribische Analyse zahlreicher Dokumente noch die ausführliche Rekonstruktion von Kampfhandlungen im Stande, umfassend darzustellen, wie die gewohnte Realität vor den Augen der fassungslosen Menschheit ruiniert wird; wie das Grauen einen Menschen lähmt und wie er seine ganzen Lebenskräfte mobilisiert, um seiner Verzweiflung entgegenzuwirken und der Finsternis zu widerstehen.
Nachdem fürchterliche Explosionen, Rauchschwaden und zerstörte Häuser im Laufe der Zeit nur noch dunkel in Erinnerung verbleiben, übt die Last der Emotionen und Gefühle weiterhin Druck auf Zeitzeugen und auf deren Nachkommen aus, da sich der Krieg, der zum Teil der nationalen Geschichte wird, mit der Geschichte einer jeden Familie verflechtet, in welcher Verluste nicht in Kampfeinheiten, sondern in nicht wiedergutzumachenden Tragödien gemessen werden.
In der Ausstellung „Das Bild vom Ganzen“ werden Ergebnisse der Arbeit am Projekt „Ich will mir ein Bild vom Ganzen machen“ vorgeführt. Die „Dokumentationsstelle Pulverfabrik Liebenau“ (Deutschland) initiierte das Projekt und schaffte es, eine außergewöhnliche Teilnehmergruppe einzubeziehen. Im Zusammenwirken mit Opfern des Nationalsozialismus wurden beeindruckende, häufig schockierende Gestalten der schrecklichen Erinnerungen durch Jugendliche aus drei Ländern – Deutschland, Belarus und der Ukraine – vor Augen geführt. Als Partner der „Dokumentationsstelle Pulverfabrik Liebenau“ traten die Kunstschule Stolzenau (Deutschland), die Internationale öffentliche Vereinigung „Verständigung“ (Belarus) und die Kinderkunstschule Schostka (Ukraine) auf.
Das Projekt wurde im Zeitraum von April 2019 bis Juni 2021 umgesetzt. Dabei handelt es sich um zwei Jahre intensiver Zusammenarbeit unter pandemiebedingten Einschränkungen, die die Arbeit mit zusätzlicher emotionaler Spannung färbten. Diese Atmosphäre verstärkte das Gefühl, die schrecklichen Erfahrungen des XX. Jahrhunderts aufarbeiten zu müssen.
Den Anfang des Vorhabens machten Teilnehmer der Kunstwerkstatt „Lasst uns zur Einsamkeit sagen – nein“ – ehemalige Häftlinge des Nationalsozialismus aus Minsk. Ihr Werk wurde durch die Jugendlichen aus Belarus, Deutschland und der Ukraine fortgesetzt.
Trotz gewisser Hindernisse ist es den Projektteilnehmenden gelungen, in Minsk ein repräsentatives trilaterales Treffen durchzuführen, bei dem Opfer des nationalsozialistischen Grauens mit jungen Künstler*innen ihre Erinnerungen an den ungeheuerlichen Zivilisationsbruch geteilt haben. Sie besuchten Mahnmale und zeichneten selbstverständlich sehr viel, hielten das Gehörte und Empfundene in visualisierter Form fest. Ein Teil der Zeichnungen wurde gemeinsam mit älteren Projektteilnehmenden angefertigt, ein anderer in gemeinsamer Arbeit von deutsch-belarussisch-ukrainischen Jugendgruppen, die sich mit den Auswirkungen der tragischen historischen Ereignisse im Zusammenhang mit dem Mord an der friedlichen Bevölkerung während des Zweiten Weltkriegs vertraut machten. Diese zwei Jahre wertvollster Beziehungen wurden für die Projektteilnehmer zu einer einzigartigen, durch Raum und Zeit geschlagenen Brücke.
Die Originale bleiben im Ausstellungsbestand der Pulverfabrik Liebenau als in Kunstform festgehaltene Zeugnisse von Emotionen der lebenden Zeitzeugen erhalten. Aus Abbildungen wurde die Ausstellung „Das Bild vom Ganzen“ zusammengestellt, die in öffentlichen Räumlichkeiten dem heutigen Zuschauer ein wichtiges Signal vermittelt.
Die Gestalten aus den Werken spiegeln das ganze Gefühlsspektrum und sehr unterschiedliche Empfindungsebenen wider: von der instinktiven Angst vor einem „zähnefletschenden Hund“ bis zum Bewusstsein der kosmischen Entwicklung des Seins. Erinnerungsspuren verflechten sich mit ausdrucksvollen Metaphern von tiefer inhaltlicher Bedeutung. Die sehr unterschiedliche plastische Ausdrucksweise der Autoren ergibt mal die Illusion eines dokumentarischen Nachweises, mal erhält sie einen plakatähnlichen pathetischen Klang. Jedoch enthalten beinahe alle Werke zahlreiche Verweise auf das Körperliche, da diese Sinnlichkeit den Ausdruck der nicht geheilten seelischen Wunden erleichterte.
Gerade in der künstlerischen Bewältigung der Katastrophe vereinen sich verschiedene Stimmen von Überlebenden der Tragödie und derjenigen, dessen Herz auf Berichte über schreckliche Ereignisse und menschliches Leid schmerzhaft reagiert, zu einem Chor. Die aufschlussreiche künstlerische Form ermöglicht durch die Wiedergabe von Emotionen der Zeugen des schrecklichen Terrors die Zusammensetzung „eines Bildes vom Ganzen“, das durch seine Tragik, Ausdruckskraft und Aufrichtigkeit beindruckt.